Der Schneekristallforscher

Der Wind trieb den Neuschnee wie Flaumfedern über die weißen Hänge. In Kesseln häufte er ihn an, formte Dünen und verwehte sie wieder, streute die Kristalle in die Ritzen der Baumrinde und brachte sie zum Klirren.
Manchmal sind es die kleinen Dinge im Leben, die unsere Aufmerksamkeit mehr als alles andere fesseln: Ein spätsommerlicher Sonnenuntergang über dem Meer etwa, ein unerwartetes Lächeln – oder die Schönheit von Schneeflocken.
Wilson Bentley geht es genau so: Eigentlich hat er alle Hände voll damit zu tun, gemeinsam mit seinem Bruder den elterlichen Hof zu bewirtschaften, doch glücklich ist Wilson mit dem Melken und dem Sammeln von Zuckerahornsaft keineswegs. Er hat sein Herz an den Winter verloren, er ist fasziniert von der Eleganz der Schneeflocken, und er hat lange mit seiner Kamera experimentiert, bis er die Schönheit dieser kleinen Wunderwerke einfangen konnte. Seitdem nutzt er jede freie Minute, um in der ländlichen Idylle der Green Mountains immer schönere und filigranere Exemplare aufzustöbern und auf Bildern festzuhalten.
Er geht nicht in die Kirche und am Dorfleben nimmt er auch nicht teil. Sein Bruder ist wütend auf ihn, weil er seine Arbeit auf dem Hof vernachlässigt. Kurzum, man hält ihn allgemein für einen Wunderling. Als er aber eines Tages Mina begegnet, nimmt eine ungewöhnliche Verbindung ihren Anfang: Mina, aus New York ins ländliche Jericho gekommen, findet nach und nach Gefallen an dem wunderlichen Schneeflockensammler. Zwischen den beiden entwickelt sich eine innige Zuneigung füreinander, Wilson schenkt Mina sogar sein schönstes Schneeflockenbild – doch dann verschwindet Mina von einem Tag auf den anderen ohne Ankündigung und reist ohne Verabschiedung zurück nach New York. Mina hinterlässt zwar einen Abschiedsbrief, doch dessen Inhalt wirft nur neue Fragen auf, und so macht Wilson sich kurze Zeit später selbst auf den Weg nach New York, um Mina zu finden und sie ein letztes Mal zur Rede zu stellen.
„Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich will Ihnen etwas verraten“, sagte er. „Manchmal stelle ich mir Gott wie einen Mann vor, der auf dem Boden sitzt und vor Glück weint. Vor ihm wächst eine winzige Blume im Gras. Er hebt zärtlich ihren Blütenkopf an und weint, weil er sich über diese Blume freut.“
Titus Müllers Erzählung lebt von der liebenswerten Schrulligkeit ihres Protagonisten: Die Idee, einen Mann ins Zentrum der Geschichte zu rücken, der neben der Arbeit auf dem Hof Schneeflocken sammelt, ist wirklich schön. Es macht unheimlich Spaß, Wilson in seinem Alltag zu begleiten und mitzuerleben, wie viel Liebe und Mühe er in seine Leidenschaft investiert und wie er sich unter den oft abschätzigen Blicken seiner Mitmenschen dennoch behauptet.
Ein wenig entzaubernd ist jedoch die Wendung, welche die Geschichte dann zum Ende hin nimmt, als Wilson Jericho verlässt und sich in New York auf die Suche nach Mina begibt. Hier verliert Wilson leider den Charme, den er bis hierhin beim Leser gewonnen hatte, denn in der großen Stadt wirkt er nicht mehr wie der liebenswerte Außenseiter, sondern nur überfordert und fehl am Platz, vom Autor quasi „bloßgestellt“. Das ist schade, denn dadurch verliert auch die Geschichte viel von ihrer bezaubernden Entschleunigung.
Insgesamt ist „Der Schneekristallforscher“ dennoch eine zarte kleine Erzählung für zwischendurch, die für eine kurze Zeit den Blick wieder auf die kleinen und feinen Dinge des Lebens zu lenken vermag.

Der Schneekristallforscher

160 Seiten, € 9,99, gebunden
Adeo, ISBN 978-3942208079

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Rezensiert von Alexander Schau