Durch den Wind

Alison lehnte ihren Hinterkopf so an Victors Brust, dass sein Kinn auf ihren langen roten Haaren lag. Ihre Haut schimmerte wie vom Mond beschienen, und ihre Augen waren geschlossen.
Der Plot selbst klingt erst einmal recht belanglos und irgendwie auch sehr nach dröger Frauenliteratur: Im großen Berlin machen sich vier junge Frauen auf die Suche nach der Liebe und dem Sinn ihres Lebens. Die vier Freundinnen könnten unterschiedlicher nicht sein, und dennoch gibt es da etwas, das sie zusammenhält: Eine große Unsicherheit mit sich selbst und die Frage danach, was dieses »Leben« eigentlich bedeutet und wie man es richtig angeht.
Da spielen natürlich Männer eine große Rolle, aber auch die Frage nach dem Lebensinhalt einer ganzen Generation. Yoko, Alison, Friederike und Siri gehen das Wagnis ein und brechen aus ihrem geregelten Lebensablauf aus – die eine fliegt kurzerhand nach Japan, um ein Loch in ihrem Familienbewusstsein zu füllen; die andere wird unversehens zur Komplizin ihrer Großmutter, die nach etlichen Ehejahren von heute auf morgen ihren Mann verlässt. Überall bröckelt und knirscht es im vermeintlich geregelten Mauerwerk all dieser Beziehungen.
»Ich habe die Blumen der Krankenschwester gegeben«, sagte Eduard, als er wieder in ihr Zimmer kam, »für das Schwesternzimmer. Sie meinte, sie könne es gar nicht sehen, dass Blumen einfach so auf dem Gang rumstünden.« Sie reagierte nicht. Er schaute sie fragend an. »Und was hat sie gesagt?«, fragte sie mit monotoner Stimme. »Bedankt hat sie sich«, sagte er. »Was sollte sie denn sagen?« »Vielleicht dass sie am Leben bleiben möchte.« Er schaute sie entsetzt an: »Was?« »Dass sie leben möchte, einfach nur, weil leben besser ist als sterben.«
Ich gebe zu: Ich hatte zunächst meine Zweifel, ich war voreingenommen und wollte dem Roman nichts weiter schenken als ein müdes Lächeln und ihn dann verreißen. Nun macht es mir die Autorin aber schwer, nach und nach konnten mich sowohl die Geschichte mit ihren Wendungen als auch Annika Reichs Stil sehr für sich gewinnen. Mag sein, die Handlung driftet stellenweise ein wenig ab und wirkt überkonstruiert – nicht der Rede wert, ein Roman ohne seine schwachen Stellen wäre erst recht nicht lesenswert.
Besonders schön ist die Art und Weise, wie Annika Reich all das erzählt: Unbefangen und leicht, manchmal vielleicht ein wenig kitschig, aber immer auch ehrlich und in einem verträglichen Maße. Hier und da leuchtet es in der Geschichte sogar regelrecht auf vor Absurdität und Komik, immer nur für einen kleinen Moment, der dann auch ganz plötzlich wieder vorbei ist und Platz macht für die sensible Sprache.
»Außerdem: Ob es woanders besser wird? Ich hab dieses Spiel schon so lange mitgespielt, ich bin doch längst Teil des Spiels. Da habe ich wenigstens meinen Platz. Und weißt du noch: Als ich Eduard geheiratet habe, war ich so stolz auf mich, weil ich mich für das Leben entschieden hatte ..., weil er so gerne lebt, weil er das Leben liebt. Und jetzt?«
Gerade die Tatsache, dass Annika Reich bei all ihrer Erzählfreude auch immer noch den Leser im Hinterkopf hat und nie zu viel verrät, nie zu weit übers Ziel hinaus schießt, macht »Durch den Wind« zu einem gelungenen Roman, der mehr Tiefen zu bieten hat, als es auf den ersten Blick vielleicht scheint.

Durch den Wind

329 Seiten, € 15,00, Taschenbuch
S. Fischer, ISBN 978-3596191406

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Rezensiert von Alexander Schau