Die Vegetarierin

von Han Kang
Bevor meine Frau zur Vegetarierin wurde, hielt ich sie in jeder Hinsicht für völlig unscheinbar.
Wenn es nach ihrem Ehemann Chong geht, ist Yong-Hye vollkommen ordinär, sie ist das Paradebeispiel des Mittelmaßes. Sie ist unauffällig, nicht übermäßig attraktiv, kleidet sich schlicht und farblos. Daher sieht Chong auch, wie er es selber formuliert, keinen Grund, sie nicht zu heiraten. Denn das Mittelmaß ist für Chong genau das Richtige. Er muss sich für eine solche Frau nicht unnötig anstrengen, muss sich nicht unter Druck gesetzt fühlen, selbst an seinem Äußeren zu arbeiten, weil die Ansprüche seiner Partnerin zu hoch sind. Er hat endlich eine Frau, die keine Ansprüche hat, aber auch zum Lebensunterhalt beiträgt und die ihm ohne zu murren das Essen macht. Yong-Hye ist Chongs perfektes Mittelmaß – bis sie sich eines Tages dazu erdreistet, Vegetarierin zu werden. Mit einem Mal steht Chongs völlig gewöhnliches Leben komplett auf dem Kopf. Seine Frau schmeißt alle tierischen Produkte weg, waren sie auch noch so teuer, er bekommt nur noch vegetarisches Essen vorgesetzt, beschwert er sich auch noch so vehement, und kein Protest, kein Vorwurf, kein Gebrüll hilft, Yong-Hye umzustimmen.

Chong ist außer sich und fühlt sich von seiner Ehefrau plötzlich völlig entfremdet. Er alarmiert Yong-Hyes Familie: Diese ist ebenso entsetzt darüber, dass Yong-Hye plötzlich kein Fleisch mehr essen will und lädt das auseinanderdriftende Ehepaar umgehend zum Essen ein, um Yong-Hye das Fleisch, das sie doch jahrelang so gerne gegessen hatte, gefälligst wieder schmackhaft zu machen – bis die Situation eskaliert.

Wer sich selbst in seinem Leben schon einmal dazu entschieden hat, kein Fleisch mehr zu essen, dem werden einige der Diskussionen, die nach Yong-Hyes Entschluss entflammen, vielleicht bekannt vorkommen, der wird das Unverständnis kennen, auf das Yong-Hye bei ihrer Familie stößt, das persönliche Gekränktsein der Familienmitglieder, als erhebe man mit dem eigenen Vegetarismus automatisch einen Vorwurf an die anderen. All jene Diskussionen und Mechanismen, die dann in Familien ablaufen können, werden im Roman »Die Vegetarierin« auf die Spitze getrieben, zur Groteske überzeichnet, und Yong-Hyes Entscheidung, kein Fleisch mehr essen zu wollen, setzt eine Entwicklung in Gang, die ihr familiäres Gefüge nach und nach auseinanderbröckeln lässt.

Dabei versteckt sich hinter den Zeilen ein mit Yong-Hyes Geschichte eng verwobenes Netz aus Gewalt, Zwang und Unterdrückung, das immer wieder durchschimmert. »Die Vegetarierin« ist ein Roman der Obsessionen: sei es Yong-Hyes bis ins Selbstzerstörerische ausufernder Ernährungswandel, sei es der zwanghafte Versuch von Mann und Eltern, aus Yong-Hye wieder die brave, unscheinbare, völlig normale Fleischesserin von früher zu machen, damit alles wieder ruhig und ordinär ist, oder seien es die erotischen Phantasien des Schwagers, die ebenfalls weite Teile des Romans einnehmen. Es geht um Oberflächlichkeiten und tief vergrabene Traumata. Und es geht um den Kampf von Individualität und Unterdrückung, um das Aufbäumen und den Drang nach Freiheit in einer zutiefst patriarchalischen Gesellschaft. Der Roman, bereits 2007 in Süd-Korea erschienen und nun in deutscher Übersetzung vorliegend, hat den Man Booker International Prize 2016 gewonnen.

Die Vegetarierin

von Han Kang
250 Seiten, € 12,00, gebunden
Aufbau, ISBN 978-3351036539
aus dem Koreanischen von Ki-Hyang Lee

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Rezensiert von Rike Zierau