Auf dem Weg zu einem Freund

Am 15. Juli 2001 fotografiert der amerikanische Fotograf Joel Sternfeld einen erschöpften Elefanten, der auf einer Ausfallstraße in Oslo den Verkehr in Richtung Westen blockiert.
Vilgot hat noch zwei Stunden Zeit, bevor er zu seinem Freund Simen gehen kann, aber er möchte nicht daheimbleiben. Bei seiner Mutter, die auf Grund ihrer krankheitsbedingten Schmerzen so unberechenbar ist und nach deren Liebe er sich beständig sehnt.
Ich weiß noch, wie wir nebeneinander in dem kühlen Wasser schwammen und wie sie plötzlich mit der Hand auf die Wasserobergläche schlug, sodass eine Säule aus sonnengetränktem, glitzerndem blauen Wasser direkt vor uns aufstieg. Sie sah mich an, und das Licht tanzte in ihren Augen. "Ich hab dich so lieb, Vilgot", sagte sie.
Er will nicht zuhause sein, bei seinem Vater, der seltsam zurückgenommen wirkt und dem Leser und wohl auch Vilgot selbst immer ein wenig fremd bleibt. Und so streift er, elfjährig und allein, durch die Straßen einer Vorstadt Oslos.

Später fragt er sich was wohl gewesen wäre, hätte jemand Zeit für ihn gehabt. Der Landwirt Lange, den Vilgot den Grafen von Hoff nennt, zum Beispiel, der in seinem heruntergekommenen Haus wieder und wieder den Film seiner verlorenen Frau auf einem Projektor abspielt. Es wäre ihm womöglich nicht das zugestoßen, was es ihm später schwer machen würde zu sprechen.

Zwischen den Szenen, in denen der elfjährige Vilgot auf dem Weg zu einem Freund ist, finden sich die Begebenheiten, wie sie dreißig Jahre später sind und mit denen das Buch seinen Anfang nimmt. Ein Elefant veruracht ein Verkehrschaos und er gehört dem erwachsenen Vilgot, der ihn nach langer Gefangenschaft in seiner Scheune freigelassen hat. Ein russischer Zirkus hat ihn in seine Obhut gegeben, aber nach und nach entwickelte das Tier Eigenarten, die zeigen, dass es sich nicht mehr lange halten lassen wird. Es vollführt monotone, tänzerische Bewegungsabläufe, wie es viele Tiere in Gefangenschaft tun und entwickelt ständig neue Wunden, die versorgt werden müssen. Gerade diese Szenen wirken verwirrend, fast surreal und man sucht, während man sie liest, Zeile für Zeile nach dem ab, was dahinter steckt, dem erklärenden Ganzen.
Der Elefant sieht mich von der Seite an. Vielleicht glaubt er, ich sei zwei Personen. Vielleicht bin ich zwei Personen. Eine Person, die nimmt, und eine, die genommen wird.
Als Kind nimmt Vilgot vor allem die Dinge um ihn herum in ihrer Trostlosigkeit, Grausamkeit und Alltäglichkeit wahr, insbesondere in Gestalt der Menschen, denen er begegnet. Niel Fredrik Dahl gibt seinem Protagonisten dabei eine Stimme, eine Wortwahl, die es dem Leser schwer macht sich den Jungen als ein normales Kind vorzustellen, ihm nicht etwa autistische Züge zuzuschreiben. Als wäre das Jetzt mit dem Später bereits im elfjährigen Vilgot vermischt oder als wäre es dem erzählenden 41-jährigen nicht möglich das ihm Widerfahrene von seinem früheren Ich fernzuhalten. Man kann nicht voraussehen, was geschehen wird, wird jedoch am Ende derartig davon getroffen, dass sich das gesamte Buch, all die Geschehnisse noch einmal vor dem inneren Auge abspielen. Vilgots Geschichte wird erst nachträglich und durch ihre den Alltag hintergründig einfärbende Präsenz zu dem, was sie tatsächlich ist: unglaublich verstörend. "Auf dem Weg zu einem Freund" ist kein Roman zum "Herunterlesen", obgleich die Sprache sich nicht schwierig nennen lässt, aber gerade deshalb ist es ein wunderbares, anders- und vor allem großartiges Buch.

Auf dem Weg zu einem Freund

224 Seiten, € 7,95, broschiert / kartoniert
Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3462036589

Rezensiert von Juliane Kopietz