Die Entzifferung der Schmetterlinge

Als der kleine Peter Nauten im zweiten Schuljahr von seiner Lehrerin gefragt wurde, was er später einmal werden wolle, gab er mit dem sanften und gesammelten Ernst, der bei seinen Mitschülern immer wieder ein Zucken der Mundwinkel auslöste, zur Antwort, das wisse er nicht, dafür sei er noch viel zu jung, in den nächsten Jahren werde er genügend Zeit haben, darüber nachzudenken.
Peter Nauten als typischen »Antihelden« zu bezeichnen, liegt im ersten Moment vielleicht nahe - diese Klassifizierung mutet dann aber spätestens am Ende der ganzen Geschichte als zu simpel an. Der Protagonist in Stefan aus dem Siepens neuem Roman ist alles, aber gewiss kein Held (und auch kein umgekehrter); er ist vielmehr nur ein Mensch, ein ganz einfacher und anspruchsloser sogar, ohne irgendwelche Starallüren oder Ambitionen zur Selbstüberzeichnung.

Geschildert wird das (irgendwo und vor allem nach außen hin sehr mittelmäßige) Leben des Peter Nauten: Jemand mit ruhigem und unauffälligem Charakter, der lieber allein ist als sich mit anderen Menschen zu umgeben. Ein Junge, der die Rücken von Taschenbüchern abschneidet und die losen Seiten mit sich in der Tasche herumträgt, um sie jederzeit hervorziehen und für einen kurzen Moment in eine andere Welt entfliehen zu können.
Dass er meist allein blieb, geschah auf zwanglose Weise. Es war zwar nicht leicht möglich, etwas gegen ihn zu haben; doch fiel es den meisten noch schwerer, etwas an ihm zu entdecken, von dem sie sich angezogen fühlten.
Nach seinem Abitur zieht Peter nach München, schreibt sich für ein Studium der alten Sprachen ein. Er lernt in einer Bar seine spätere Frau Trixi kennen, teilt einige glückliche Momente mit ihr, bis die Ehe schließlich wieder aufgelöst wird.
Nach dem Tod des Vaters ist es seiner stillen und übervorsichtigen Mutter nicht mehr möglich, ihm das teure Wohnheimzimmer zu bezahlen; Nauten nimmt einen Job bei einer Versicherung an, wird ebenfalls nach kurzer Zeit gekündigt und hält sich von nun an als Kellner in einem Café mit nicht unerheblichem Erfolg über Wasser.

Interessant ist vor allem, dass man als Leser das Gefühl hat, Nauten zwar nicht auf Schritt und Tritt durch seinen Alltag zu begleiten, aber dennoch immer auf dem Laufenden zu sein und über sein Leben Bescheid zu wissen. Aber eben dieses Leben besteht - so will es die Beschaffenheit des Protagonisten - eben fast ausschließlich aus ihm, und das ist der große Kritikpunkt, den ich leider anbringen muss: Dieses Miterleben ist stellenweise gähnend langweilig, weil eben überhaupt nichts passiert, weil Nauten eben jemand ist, dessen Leben nur - wenn überhaupt - äußerst selten einmal von dem ihm vorbestimmten geraden Weg abkommt. Da helfen auch die vereinzelt eingestreuten, durchaus liebenswürdigen Einfälle des Autors leider nur wenig. Der Grundtenor der ganzen Geschichte bleibt ein sich hoffnungslos vorwärtsquälender.

Wenn da nicht diese vorsichtige, beinahe poetische Sprache gewesen wäre, die mich teils seitenlang mit sich zu tragen wusste, weiß ich nicht, ob ich bis zur letzten Seite durchgehalten hätte. Zwischendurch war ich öfter am Zweifeln. Überdies waren viele von Nautens Entscheidungen für mich persönlich nicht recht nachvollziehbar: Wieso zum Beispiel gibt er die Schmetterlinge so plötzlich auf, wenn es doch vorher stets danach aussah, als wäre dies endlich einmal eine Erfüllung in seinem Leben? Ist der Grund etwa eben der, dass sein Leben so grau und langweilig ist wie er selbst? Und falls ja, ist dann dieses Bild eines weltfremden Eigenbrötlers in der hier vorgenommenen Umreißung nicht vielleicht doch an manchen Stellen einfach zuviel des Guten?

Auch wenn ich die Sprache als sehr angenehm und wohltuend empfand, über viele Kleinigkeiten gestolpert bin, die mich glücklich gemacht haben, bleibt doch am Ende leider nicht viel mehr als das Gefühl, eben einen Lebenslauf in Prosaform gelesen zu heben. Ein wenig mehr Handlung, irgendein Ausbruch aus dem schnöden Alltagstrott hätte der Geschichte nicht wehgetan, ganz im Gegenteil.
Im feuchten Sand lagen Muscheln weithin verstreut. Der Gedanke streifte ihn, dass sie noch vor Kurzem im Meer ihr stummes und verborgenes Dasein geführt hatten; jetzt waren sie in die Grelle des Tages hinausgeworfen, und den Schalen, die vielleicht mit geheimen Botschaften beschrieben waren, stand nichts mehr bevor, als in immer kleinere Stücke zermahlen zu werden und sich schließlich in Sand zu verwandeln.

Die Entzifferung der Schmetterlinge

224 Seiten, € 9,90,
dtv, ISBN 978-3423142083

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Rezensiert von Alexander Schau