Die Differenzmaschine
Kompositbild, optisch verschlüsselt durch die Begleitmaschine des Transkanal-Luftschiffes Lord Brunel: Luftaufnahme eines Vorortes von Cherbourg, am 17.Oktober 1905. Eine Villa, ein Garten, ein Balkon. Hinter dem geschwungenen gusseisernen Balkongeländer sind ein Rollstuhl und seine Insassin zu sehen. Widerspiegelungen des Sonnenuntergangs glänzen von den vernickelten Radspeichen des Rollstuhles.Fünf Iterationen erwarten den Leser von „Die Differenzmaschine“. Einerseits wohl, weil den Autoren das Wort Kapitel zu schnöde vorkam, andererseits passt es natürlich zur zentralen Thematik des Romans: Der unaufhaltsamen Computerisierung der Welt, hier auf die Spitze getrieben durch einen alternativen Geschichtsverlauf, in dem die Erfindung des Computers schon in den 1830ern erfolgte. Was durchaus auf realen Ereignissen fußt, hatte doch auch in unserer Welt ein genialer Mathematiker namens Charles Babbage bereits eine voll funktionstüchtige mechanische Rechenanlage entworfen und scheiterte nur noch an der erforderlichen handwerklichen Finesse in der Herstellung der notwendigen Einzelteile. Im Großbritannien des vorliegenden Romans musste der Mann sich nicht wegen solch einer Lappalie geschlagen geben und erfand eine Maschine, die mit mörderischem Energieaufwand (welch ein Glück, dass es die Dampfmaschine schon gab!) dieselbe Rechenleistung bringen konnte wie heutzutage ein Taschenrechner vom Grabbeltisch. Was vor fast 200 Jahren natürlich die Welt veränderte.
Durch das Glas war ein großer Saal mit aufragenden Maschinen zu sehen - so viele, dass Mallory zuerst dachte, die Wände müssten verspiegelt sein, wie in einem feinen Ballsaal. Es war wie ein Stück Illusionskunst, mit dem Ziel, das Auge zu täuschen - die mächtigen, identischen Maschinen, uhrenähnliche Konstruktionen aus kompliziert ineinandergreifendem Messing, groß wie aufgestellte Güterwaggons, jede auf fußhohen gepolsterten Lagern.So ist der wohl wichtigste Beruf nun der des Lochers. Mithilfe von Lochkarten programmiert dieser zum Beispiel die riesigen Rechenmaschinen, die die gesamte britische Bevölkerung registriert und mittels Bürgernummern archiviert haben. Was unter anderem einen sehr bequemen bargeldlosen Zahlungsverkehr ermöglicht. Sofern man Geld hat, versteht sich. Oder man ist eher der kreative Typ und nutzt seine Programmierfähigkeiten für den Kinotropen, eine Art mechanischer Bildschirm, mit dem ein findiger Künstler wie zum Beispiel ein gewisser John Keats wahre Wunder anstellen kann. Und dann gibt es da noch ein mysteriöses Bündel von Lochkarten, für das Eingeweihte über Leichen zu gehen bereit sind. Schade nur, dass wir Leser niemals zu den vollends Eingeweihten zählen werden.
Genauso wenig wie die drei Hauptfiguren des Romans, auch wenn jeder von ihnen dieses Bündel einmal in Händen halten wird. Zwei der Hauptfiguren, nämlich das gefallene Mädchen Sybil Gerard und der Spion Lawrence Oliphant stehen am Anfang beziehungsweise am Ende der Geschichte im Mittelpunkt und liefern einen Rahmen für die Haupthandlung. In jenem Hauptteil des Romans (nämlich über die mittleren drei Iterationen hinweg) begleiten wir den Forscher Edward Mallory. Der ist Paläontologie, genauer gesagt der berühmte Entdecker des „Großen Land-Leviathans“, einem fossilen Brontosaurus. Durch ein ihm holdes Schicksal gelangt er zu Beginn seiner Geschichte an immensen Reichtum - ganze 450 Pfund gewinnt der Teufelskerl beim gerade erst in Mode gekommenen Dampfwagenrennen! Doch wird er erst einmal kaum in der Lage sein, diesen Reichtum zu genießen, denn während er noch vor seinem Spiegel übt, wie er einem potentiellen Gast möglichst elegant eine jener extravaganten Havanna-Zigarren aus dem justament erworbenen und verboten schönen Etui anbieten könnte, verschwören sich schon dunkle Mächte gegen ihn, denn er ist während des Rennens auch in den Besitz eines gewissen Bündels an Lochkarten gekommen. Und während sich über London eine Klimakatastrophe namens Der große Gestank zusammenbraut und die Themsemetropole zunehmend im Chaos versinkt, muss sich „Leviathan-Mallory“ auf kurz oder lang diesen Mächten stellen.
Die Bürger Londons waren aus der Stadt geflohen, soweit es ihnen möglich war, oder hielten sich hinter verschlossenen Fenstern in ihren Wohnungen auf. Da die Wetterlage noch immer keinen Luftaustausch gestattete, hing der Rauch zwischen den Häusern und bildete mit anderen Ausdünstungen und Verunreinigungen einen stinkenden gelblichgrauen Dunst, der es schwierig machte, eine Straße in ihrer Länge zu überblicken. Die Passanten erschienen aus diesem Dunst wie gutgekleidete Gespenster.In wundervoll sachlicher, schnörkelloser Sprache schildern William Gibson und Bruce Sterling, die man ansonsten hauptsächlich als Vertreter des dystopischen Cyberpunk-Genres kennt, eine abwechslungsreiche und spannende Geschichte in einem klug durchdachten Alternativweltsetting, bei dem sich hinter jeder Ecke Anspielungen auf die tatsächliche Geschichte des 19. Jahrhunderts finden lassen. Ein bisschen geschichtsinteressiert sollte man also schon sein, auch wenn kein profundes Wissen über diese Epoche benötigt wird, um in den Genuss des Buches zu kommen. Dafür sorgen schon die herrlich stimmungsvolle Erzählweise, die einen stellenweise gleich einem Sog mit sich zu ziehen vermag sowie die sympathischen Hauptfiguren, denen man gerne auf ihrer Reise durch die Gassen Londons bis hin in die Pariser Alleen folgt.
Allerdings sollte man wenigstens ein bisschen Interesse für Technik mitbringen, denn auch wenn die Handlung im 19. Jahrhundert angesiedelt ist, ist „Die Differenzmaschine“ doch klassische und handfeste Science Fiction. Und man sollte sich nicht zu viele Antworten erhoffen, denn ein Großteil der Handlung dient eher der Präsentation dieser so großartig detailreich ausgearbeiteten Welt. Aber immerhin hat man am Ende der Geschichte genug Informationen gesammelt, um sich zumindest zusammenreimen zu können, was es denn nun mit diesem rätselhaften Lochkartenbündel auf sich hatte. Und unser tapferer Paläontologe darf sich zum Abschluss seines Teils der Handlung auch einen schön actionreichen Schlagabtausch mit seinen Widersachern leisten.
Am Ende des Romans, als quasi letztes Kapitel nach all den Iterationen, erwartet den Leser schließlich der Modus, eine Sammlung fiktiver Artikel, Briefe, Vorträge und Kurzgeschichten, die nochmals ein paar zusätzliche Informationen und noch eine ganze Menge weitere Tiefe für die Geschichte nachreichen. Großartig ist dabei vor allem die Kurzgeschichte „Der Meister im Ruhestand erinnert sich General Wellingtons“. Die hätte genauso auch von Poe stammen können. Und zum Abschluss der letzten Geschichte erlaubt man uns sogar einen Blick in das Jahr 1991 (was zum Erscheinen des Buches der Gegenwart entsprach), nach dem sich noch einiges mehr aufklärt.
Ein Straßenjunge fegte mit einem Reisigbesen das Pflaster vor Mallorys Füßen. Der Junge blickte verwundert auf. „Wie bitte, Sir?“ Mallory erkannte mit unglücklichen Erschrecken, dass er Selbstgespräche geführt hatte, geistesabwesend dagestanden und laut über Oliphants Raffinement gemurmelt hatte. Der Junge sah, dass er Mallorys Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte, und vollführte einen Überschlag rückwärts. Mallory warf ihm zwei Pence zu, wandte sich aufs Geratewohl um und ging weiter.
Die Differenzmaschine
Rezensiert von Martin Katzorreck
Martin ist Psychologe und trotzdem ganz umgänglich. Wenn er nicht gerade im Kino sitzt, dann liest er – nach eigenem Ermessen aber immer viel zu selten. Er liebt Bücher, die ihn mit Sprachgewalt packen und in ungesehene Welten zerren. Gerne in Form eines Romans, doch auch Graphic Novels gegenüber ist er nicht abgeneigt. Auch wenn er sie häufig noch als „Comics“ bezeichnet.