Das fremde Meer

Als Kind hatte ich viele Freunde. Fast ausschließlich Jungen. Die Mädchen konnten wenig mit mir anfangen. Ich war zu laut, zu grob, zu schnell, meist war ich schmutzig, die Arme voller blutiger Kratzer, die Beine voller blauer Flecken. Ich war ein wildes Kind.
Zehn Geschichten sind es, die Marie ihrem Liebsten Jan erzählen wird, und dazwischen erzählt sie von sich. Und von Jan. Und wir Leser dürfen daran teilhaben. Das klingt zugegebenermaßen etwas kryptisch, doch keine Angst, Marie wird auch uns an die Hand nehmen, zu Beginn ganz klassisch von ihrer Kindheit zu erzählen, wie der Wechsel in die Stadt ihr gar nicht bekam, wie sie immer Angst vor Krankenhäusern hatte, weil sich als Kind mal verhörte und »Krakenhaus« verstand. Und recht bald schon ergibt sich ein klares Bild von ihr, sensibel, unsicher, introvertiert, nie wirklich dazugehörend, mit leichtem Hang zur Depression und dem Gefühl, nicht weiterzukommen, kaum etwas anderes zu machen als eine weitere gefühlte Ewigkeit an ihrer Dissertation zu schreiben. Dann trifft sie auf Jan, bei dem sie sich endlich geborgen und verstanden fühlt, auch wenn sein Umfeld sie genauso verunsichert wie der Rest der Welt. Nichtsdestotrotz liebt sie ihn und er liebt sie. Doch dann geschieht etwas mit Jan. Was genau, erfahren wir natürlich erst zum Schluss, auch wenn viele Andeutungen schon frühe Schatten aufwerfen.
Doch all dies passiert nur nebenbei, gibt nur den Rahmen vor für die eigentlichen Geschichten, die Marie erzählen will.
Lange Zeit habe ich nicht gewusst, was ich erzählen soll, denn ich muss sparsam mit unseren Geschichten sein: Ihre Zahl ist endlich. Die Geschichte Pauls, die Geschichte der Spinnen, die Geschichte des Fahrrads lassen sich alle bloß ein Mal erzählen, und wir werden einige tausend Meilen reisen müssen, bis zum Rand der Welt und wieder zurück, bevor es mir möglich sein wird, auch die letzte Geschichte zu erzählen. Nun endlich weiß ich, wo und wie ich die Reise beginnen kann. Ich schlage das erste Heft auf. Bist du bereit?
Stimmt schon, rein technisch betrachtet ist der Debütroman von Katharina Hartwell eher ein Erzählungsband mit Rahmenhandlung. Doch so stilsicher, wie sie sich der unterschiedlichsten Genres zu bedienen weiß, stört dieser kleine Etikettenschwindel nicht im Geringsten. Vielmehr darf sich der Leser hier auf eine abwechslungsreiche kleine Wundertüte an Erzählungen freuen: Mal verschlägt es uns in eine Science-Fiction-Geschichte über eine Stadt, in der die Häuser nach einem missglückten Experiment plötzlich verschwinden und an anderer Stelle wieder auftauchen (Geschichte Nummer eins: »Die letzten Tage in der Wechselstadt«), mal befinden wir uns in einer Historie und wandeln als Hysteriepatientin durch ein Pariser Sanatorium des 19. Jahrhunderts (Geschichte zwei: »Astasia-Abasia«), nur um dann auf ein überraschend dunkles und gruseliges Märchen über eine Prinzessin zu stoßen, die lieber ein Ritter gewesen wäre (Geschichte drei: »Im Winterwald«). Die Geschichten sind kunstvoll miteinander verwoben, die Hauptfiguren ändern sich quasi nicht (was spätestens durch ein neckisches Spiel mit den jeweiligen Namen deutlich wird), wechseln teilweise sogar direkt von einer Geschichte in die nächste. Und auch die Themen bleiben letztlich gleich - man bekommt den Eindruck, zehnmal die gleiche Geschichte zu lesen.

Ohne dass dies langweilig wird, wohlbemerkt, denn mehr noch als ihre Fähigkeit zur Konstruktion von Geschichten kommt in »Das Fremde Meer« die Sprachgewalt von Katharina Hartwell zur Geltung. Mit kunstvollen Aufzählungen in manchmal schier endlosen Sätzen baut sie aus Worten Wirbel, die einen immer tiefer mit sich ziehen. Und sie schafft für jede Geschichte eine eigene, stets dichte und etwas düstere, drückende Atmosphäre, die man so schnell nicht wieder vergessen kann. Am eindrucksvollsten gelang ihr dies in der siebten Geschichte, »Zwei Inseln«, die der klare Liebling des Verfassers dieser Rezension ist.
In der Schule ziehen die anderen Kinder sie auf, doch schert sich Klara wenig um die Hänseleien. Wenn die Kinder sie umringen, sie an den Haaren ziehen und im Singsang fragen, woher sie komme, wo sie zu Hause sei, dann antwortet sie: Ich komme von einem Ort, an dem es immer schneit; ich komme aus einem Schloss über den Wolken. Dort, wo ich herkomme, gibt es Monster mit tausend Augen und noch mehr Zähnen, und sie alle gehorchen mir. Die anderen Kinder lassen sich schnell in die Flucht schlagen, berichten atemlos den Eltern von Klaras Geschichten. Wieder und wieder stellt man Klaras Mutter zur Rede; wieder und wieder schilt die ihre Tochter. Doch wann immer sie Klara ermahnt, dass es an der Zeit sei, mit dem Lügen aufzuhören, begegnet ihr die Tochter mit dem gleichen Lächeln. Denn Klara weiß, dass sie nicht lügt, dass sie tatsächlich von einem fernen Ort kommt, und vielleicht gibt es dort Schlösser und vielleicht gibt es dort Monster. Eines aber gibt es dort sicher nicht: Das Meer, das Dorf, die Mutter.
Ganz klar ist »Das Fremde Meer« nicht nur ein beeindruckendes Debüt, sondern vor allem auch ein schlicht toll geschriebenes Buch in virtuoser Sprache. Wer sich also mit der Rahmenhandlung anfreunden kann, der sollte auf jeden Fall mal einen Blick hinein riskieren.
Danach gibt es das Krakenhaus und die Erkenntnis, dass ich schon als Kind alles richtig verstanden habe. Denn die Kraken gibt es tatsächlich. Sie sind bloß unsichtbar. Aber das macht keinen Unterschied: Ich kann all ihre Arme fühlen, und sie halten mich im festen Griff, sodass ich mich nur noch schwerfällig und wie gegen einen Widerstand bewegen kann.

Das fremde Meer

567 Seiten, € 22,99, broschiert / kartoniert
Berlin Verlag, ISBN 978-3827011374

→ Leseprobe
Rezensiert von Martin Katzorreck