Bilder deiner großen Liebe

Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert. Weil viele Leute denken, dass die superkomplett bescheuert sind, die Verrückten, nur weil sie komisch rumlaufen und schreien und auf den Gehweg kacken und was nicht alles. Und das ist ja auch so. Aber so fühlt es sich nicht an, jedenfalls nicht von innen, jedenfalls nicht immer.
»Bilder deiner großen Liebe<« ist die Geschichte Isas, die in Herrndorfs Erfolgsroman »Tschick« einen kurzen Auftritt hatte. Barfuß flieht sie aus einer psychiatrischen Anstalt und irrt tagelang durch Deutschland. Als 14-jährige sportliche und attraktive Teenagerin verdreht sie fast allen Männern den Kopf, muss jedoch, weil sie kein Geld hat, von der Hand in den Mund leben, mogelt sich mehr schlecht als recht durch, begegnet vielen Menschen und lernt einige etwas näher kennen, darunter Schiffskapitäne, Bankräuber, Schriftsteller. Ihre Odyssee nutzt Herrndorf erneut, um ein aktuelles Bild Deutschlands mit erstklassigen Charakteren und Geschichten zu zeichnen.

Doch steht der Roman unter einer ganz besonderen Frage, nämlich der nach Normalität und Verrücktheit. Isa hatte eine schwierige Kindheit, ist in psychologischer Behandlung und muss Medikamente nehmen, um funktionstüchtig zu sein. Sie jedoch definiert Ihr Verrücktsein auf eine ganz andere Art und Weise:
[…] aus dem Fenster steigen ist mir sowieso lieber. Geht man durch die Tür, dann geht man in die Alltagswelt mit ihren Gewohnheiten und ihrem Schmutz. Steigt man aus dem Fenster, gelangt man in einen Raum wie in seinem eigenen Innern.
Sie will kein Normalo sein und setzt ihren Weg unbeirrt fort, auch wenn dieser mit Schwierigkeiten verbunden ist. Denn Isa ist in der Lage, auftauchende Hindernisse geschickt zu überwinden. Sie kann sogar noch mehr: Sie wirkt sympathisch, kann den Leser von Anfang an derart für sich einnehmen, dass man ihr Fehlverhalten verzeiht. Sie stiehlt nämlich, lügt, bedroht kleine Kinder. Man mag sie trotzdem, weil sie eben nicht bescheuert ist, sondern ganz im Gegenteil sehr clever und schlagfertig. Es liegt auch daran, dass Isa zu den Schwächsten der Gesellschaft gehört, schließlich ist sie noch nicht volljährig, mittellos, angeblich verrückt und suizidgefährdet. Beim Leser wird der Beschützerinstinkt geweckt, weil das Mädchen freundlich bleibt, niemandem etwas Böses will und zudem sehr viel Humor besitzt. So hofft man die ganze Zeit, dass es ihr gut geht, dass sie freundliche Menschen trifft, dass ihr nichts geschieht. Denn Isa wird von einer undefinierten, dunklen Macht bedroht, vor der sie zu fliehen scheint. Halt und Orientierung gibt ihr ihr Tagebuch:
Ich halte das Tagebuch wie einen Kompass vor mich hin.
Ständig ist sie besorgt um ihr Notizbuch, das sie vor Nässe schützen will und das ihr genauso viel Sicherheit gibt wie die Pistole, die sie bei einer männlichen Leiche im Wald findet.

Man kann Isa als Alter Ego Herrndorfs verstehen, denn beide befinden sich in einer sehr ähnlichen Situation: sie sind dieser Welt ein Stück entrückt, fühlen sich verfolgt, sie lieben ihre Tagebücher und das Schreiben, sie stellen sich ihren Selbstmord vor. Isa wird es glücklicherweise schaffen, ihre Kugel trifft nicht den eigenen Kopf wie die von Herrndorf:
Laden und entspannen. Laden und entspannen. Ich ziele auf die Sonne. Ich ziele auf die Federwolken und Schäfchenwolken, auf die Vögel. Ich fahre die unklaren Konturen der Berge entlang. Ich ziele auf die blauen Puschel, ich fahre den lichtgrauen Strich unterm Horizont ab, auf dem Spielzeugautos seitwärts kriechen und ohne Angst im Dunst verschwinden. Ich schaue in den Abgrund, genau über meine Stiefelspitzen hinweg. Ich halte die Waffe genau senkrecht hoch und sehe mit offenem Mund der Kugel hinterher, sehe sie steigen, sehe sie immer kleiner und kleiner und fast unsichtbar werden im tiefdunklen blauen Himmel, bevor sie sich aus dem Verschwundensein wieder materialisiert und zu fallen beginnt, millimetergenau zurück in den Lauf der Waffe.
»Bilder deiner großen Liebe« lebt von den Andeutungen, von den Auslassungen, von dem Raum, der Interpretationen einfordert. Wen zum Beispiel spricht der Titel an, wer ist mit »deiner« gemeint? Was hat es mit der Kugel auf sich, die in den Lauf der Waffe zurückfällt? Man sollte diesen unvollendet gebliebenen Roman, der wegen seiner flotten Dialoge und einer gehörige Portion Humor eine rasante und gewinnbringende Lektüre ist, unbedingt lesen. Wer »Tschick« gemocht hat, darf Isas Abenteuer sowieso nicht verpassen und sollte auch noch »Arbeit und Struktur« lesen, da sich die drei Werke bestens ergänzen.

Bilder deiner großen Liebe

144 Seiten, € 16,95, gebunden
Rowohlt, ISBN 978-3871347917

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Rezensiert von Dennis Gerstenberger