Alles ist jetzt

Über mir wiegen sich Maiskolben im Wind. Ich liege auf der Erde, mein Nachthemd ist klamm, meine Füße schmerzen vor Kälte. Es raschelt im Feld, und das Gesicht meiner Mutter taucht auf, in ihren Augen stehen Tränen. Ihr Mund ein kleines Tier auf meinen Wangen, feuchte Küsse, ein Flüstern: Da bist du ja, da bist du ja.
Zitieren wir doch zum Einstieg mal direkt den Klappentext, der mich zunächst angeekelt mit spürbaren Vorurteilen zu diesem Roman greifen ließ:
Sätze wie Atemzüge, gestoßen aus einem Körper, der dem Druck nicht mehr standhält. Eine Sprache im Einklang mit der inneren Bewegung der Protagonistin, die an ihren Gedanken entlanggleitet, die Glasglocke abtastend, in der sie eingeschlossen ist. Eine physische Sprache, die sich am körperlichen Empfinden der Heldin orientiert, an ihrer Taubheit, an ihrer Entfremdung von sich selbst.
Mein erster Gedanke: Igitt, wie anbiedernd ist das denn bitte.
Dann aber, bereits nach wenigen Sätzen, die Erkenntnis: Hier liegt etwas Großes vor mir.

Warum genau Ingrid mit ihrem Leben unzufrieden ist, weiß ich am Ende des Romans immer noch nicht ganz genau – da spielen viele Faktoren eine Rolle, ihr Job an der Bar eines schlecht laufenden Sexclubs genau so wie die verkorkste Kindheit und das höchstens als unterkühlt zu beschreibende Verhältnis zu ihrem Vater. Ingrid ist irgendwo einfach stehen (oder viel eher: liegen) geblieben, und nun lässt sie sich treiben.
Gelbe Nelken wird Werner kaufen, für sein graues Kind. Alles andere haben sie nach und nach aufgegeben, Familienzusammenführungen, Telefonate ohne besonderen Anlass, Postkarten aus dem Urlaub, all diese freundlichen Überflüssigkeiten sparen sie sich. Aber zwischen den Jahren treffen sich Vater und Tochter, zwischen den Jahren schenkt Werner der Ingrid einen Strauß Blumen. Am Neunundzwanzigsten oder am Dreißigsten fährt er in die Stadt, um Raketen zu kaufen, dann trinken sie Kaffee.
Alles, was jetzt ist, war auch damals schon da. Ingrids Sorgen und Probleme sind alt und wurzeln tief in der Vergangenheit. Das, was sie erdrückt, wird sie nicht los: Nicht durch Sex und auch nicht dadurch, dass sie eines Tages überstürzt die Stadt verlässt und ihren alten Jugendfreund Moritz aufsucht, von dem sie sich – ja, was eigentlich? – verspricht. Sie nennt es Liebe, er hingegen verschwendet keinen Gedanken an das Mädchen, in das er allabendlich seinen Schwanz steckt, und braucht demnach auch keine anderen Worte außer: Nein, Ingrid, ich liebe dich nicht.
Es ist Sommer, und Ingrid ist achtzehn. Schule mittelmäßig beendet, aber beendet, fürs Erste ein Job an der Tankstelle. Die Zukunft ein Wort. Was zählt: Ingrid ist achtzehn und lässt sich von niemandem mehr durch die Gegend tragen. Eine Hand unter den Knien, die andere in ihrer Achsel, nein, das will sie nicht mehr.
Wer jetzt aber denkt, hier therapiert sich ein antriebsloses graues Mäuschen selbst, der irrt. Ingrid hat durchaus Biss, sie kann schlagfertig sein und sich durchsetzen – sie kommt nur selten dazu oder will es vielleicht auch gar nicht. Jedenfalls ist die völlige Abwesenheit von Selbstmitleid und fraulicher Keiner-hat-mich-lieb-Nörgelei der große Pluspunkt dieses Romans.

Dazu kommt, und da wären wir wieder beim anfänglichen Vorurteil, eine Sprache, die es wirklich in sich hat: Grob und kantig in ihrer Beschreibungswut, gleichzeitig aber auch enorm sensibel und darauf bedacht, in erster Linie zu erzählen und nicht zu werten. Julia Wolf instrumentalisiert diese Sprache, sie treibt ihre Protagonistin voran und bremst sie aus. »Alles ist jetzt« ist ein Roman voll rasanter Bewegung und dann wieder plötzlichem Innehalten, der vor Kraft strotzt und von dessen ganz eigenem Drive man sich einfachen mitreißen lassen muss.

Alles ist jetzt

160 Seiten, € 19,90, gebunden
Frankfurter Verlangsanstalt, ISBN 978362700211-4

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Rezensiert von Alexander Schau