Weil wir längst woanders sind

Eines Tages ist er einfach da. Über Nacht, ganz leise und unbemerkt. Er liegt dort, als wäre es nie anders gewesen, völlig selbstverständlich.
Basil und seine drei Jahre jüngere Schwester Layla haben ihre Kindheit in Saudi-Arabien verbracht, weil ihr Vater aus Dschidda stammt, aus der Nähe von Mekka. Ihre Mutter Barbara jedoch ist Deutsche, und nach einem gemeinsamen Sommerurlaub kehrt die vierköpfige Familie nicht nach Saudi-Arabien zurück. Im Winter kriegen die beiden Kinder ihren ersten Schnee zu sehen, der über Nacht gekommen ist und am nächsten Morgen einfach vor der Haustür liegt. Ein kleines Wunder für die beiden.
Rasha Khayat greift in ihrem Debutroman ihre eigene Lebensgeschichte auf, auch sie hat einige Jahre ihrer Kindheit in Dschidda verbracht. Eine Kindheit zwischen zwei Kulturen kann jedoch ganz unterschiedliche Auswirkungen haben. Basil fühlt sich eher als Deutscher und ist in Hamburg verankert. Mit seinen 31 Jahren studiert er noch immer und ist zwar kein Langweiler, aber doch ein Mensch ohne Elan, ohne Lebensfreude geworden, der sehr an seiner Schwester hängt. Er ist nicht zufrieden mit sich und seinem Leben, doch ist er auch nicht in der Lage, seine Situation zu ändern. Gemeinsam mit Alex und seiner Schwester Layla lebt er in einer Wohngemeinschaft. Als die Beziehung zwischen Layla und Alex zerbricht, wird Layla endlich aktiv. Sie war schon immer die impulsivere der beiden und lebt ihre Träume aus. Über Nacht verlässt sie ihre Heimat Deutschland, um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Sie landet schließlich wieder in Dschidda, wo sie 12 Monate nach ihrem plötzlichen Aufbruch heiraten wird. Eine Woche lang begleitet der Leser den Ich-Erzähler Basil, der seine Schwester besucht und sich nur langsam in seine alte Heimat einfindet.
»Ich hatte doch auch oft Sehnsucht, Layla.«
»Warum hast du denn nie etwas gesagt?«
Die Spannung des Romans wird aufrechterhalten durch die große Frage, ob die Hochzeit gelingen wird und wer von den beiden Geschwistern die bessere Entscheidung getroffen hat: Basil, der in Hamburg bleiben will, oder Layla, die ihr gewohntes Leben aufgibt und sich freiwillig in die saudische Unfreiheit begibt, wo sie sich einen Schleier anziehen muss, wo ihr Leben von ihrem Mann bestimmt wird. Zumindest sieht Basil die Situation auf diese Weise.

Erfreulicherweise gibt die Autorin keine Antwort auf die heute besonders drängende Frage nach der »richtigen« Kultur. Jeder muss für sich selbst entscheiden, welchem Kulturkreis er oder sie sich mehr verbunden fühlt und seine eigenen Entscheidungen treffen, wo es ihm oder ihr besser geht. Obwohl Basil und Layla eine gemeinsame Kindheit gehabt haben, fallen ihre Antworten völlig unterschiedlich aus. Als Leser des Romans ist man gezwungen, der Sichtweise Basils zu folgen, der während seines Aufenthalts in Dschidda immer nur kurzen Kontakt mit seiner Schwester findet, da sie in den Vorbereitungen der Hochzeit verstrickt ist. Und trotz der Erzählperspektive des Bruders ist Laylas Charakter stärker geraten, da Basil zu lethargisch wirkt und keine Entscheidungen treffen will oder kann.

Khayats Sprache ist nicht nur unaufgeregt, sondern auch poetisch, wie schon am Titel oder im gelungenen ersten Kapitel mit dem Titel Schnee zu erkennen ist. Als Bloggerin (siehe http://www.westoestlichediva.com/), Übersetzerin und Lektorin hat sie engen Kontakt zur geschriebenen Sprache und beweist nachdrücklich, wie brandaktuelle Themen auf eine ruhige Art in eine Geschichte eingebaut werden können, ohne an den Haaren herbeigezogen zu wirken. Dass sie viele ihrer eigenen Lebenserfahrungen im Roman verarbeitet hat, hat ihr sicherlich geholfen, einen authentischen und gut lesbaren Roman zu schreiben. Ob die Erfahrungen der Protagonisten eins zu eins auf das Leben der Autorin übertragen werden können, ist nebensächlich. Entscheidend ist, dass der Roman an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft gewinnt. Man kann die Frage nach autobiografischen Elementen in Romanen nämlich auch wie Benno Hurt beantworten: »Autobiografisch schreiben, das gibt es ja gar nicht. Ich würde einen anderen Begriff für den Schriftsteller wählen: Schreiben ist eine gnadenlose Selbstausbeutung.«

Weil wir längst woanders sind

192 Seiten, € 19,99, gebunden
Dumont, ISBN 978-3832198145

Rezensiert von Dennis Gerstenberger