Es ist spät, ich kann nicht atmen

Ich finde keine Schafe mehr auf der Weide meiner Nacht. Kein einziges Lämmlein, das ich schlafhungrig zählen könnte. Der Viruswolf hat sie in fünf Jahren aufgefressen.
Ein nächtliches Lamento auf das Leben ist dieser Roman, die Lebens- und Leidensgeschichte eines Mannes, für den es keine Hoffnung mehr zu geben scheint, keinen Sinn. Gar nichts.
Alles ist längst entschieden. Ich fechte mit einem Phantom. In diesem Herzkrieg habe ich längst verloren.
Mario ist vierunddreißig und schwul. In dieser Nacht sitzt er in seinem dunklen Zimmer und lässt seinen Gedanken und seiner Furcht vor dem nahenden Tod freien Lauf. Mario hat Aids, seit drei Jahren weiß er, dass er infiziert ist. Noch ist die Krankheit nicht ausgebrochen, doch die ersten Symptome machen sich bereits bemerkbar: Taubeneigroße Lymphknoten unter den Achseln, nächtliche Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit.
Mario hat Angst vor dem, was noch kommen wird, vor dem Ausbruch der Krankheit und dem Gerede der anderen. Er hat bereits mit allem abgeschlossen; die letzten Zigaretten und die Einsamkeit seines Zimmers in Berlin treiben ihn zurück in seine Gedankenwelt, in seine Jugendzeit als Schauspielschüler und Männerjäger. In dieser Nacht findet er alles wieder: Das Verhältnis zu seiner greisen Mutter in dem kleinen Dorf F., seine ersten Erfahrungen mit Männern und sein Anders-Sein. Und vor allem taucht Jan in seinen Gedanken wieder auf, Marios große und einzige Liebe, die er noch immer nicht loslassen kann.
Wir sitzen im gleichen Boot, wir haben das gleiche Schicksal, aber jeder reist für sich. Wir überlassen es dem Tod, über unsere Schatten zu springen.
Mit einer schier unglaublichen Inbrunst und Heftigkeit erzählt, ist diese Geschichte gleichzeitig auch die absolute Kapitulation eines Menschen.
Wie auf einem Seil bewegt sich Mario hin und her zwischen Resignation und einem letzten Aufbegehren, und jedes Mal, wenn er eines der beiden Enden fast erreicht zu haben scheint, ändert er plötzlich die Richtung. Dabei stolpert er über liebenswerte Details aus seiner Vergangenheit ebenso wie über Erinnerungen, die ihn sofort und schmerzvoll wieder zurückschleudern in sein verrauchtes Zimmer. Es bedeutet ungeheuren Mut, all diese Ehrlichkeit zu Papier zu bringen, denn dass hinter all den (wunderbaren!!) Worten mehr steckt als nur einer, der auf sich aufmerksam machen will, wird bereits früh klar. Diese Geschichte ist nicht nur Hilferuf und lodernde Anklage, sondern stellt sich nach dem Schlusswort gleichzeitig auch als ein verzweifeltes Plädoyer für das Leben heraus.
Noch einmal mit dem Schwarm der Nachtvögel aufsteigen, im Gesang der vielen das eine Lied suchen, das einen neuen Hunger weckte, ein neues Spiel erfand. Die Namen sind verschwunden, aber all die vielen Hände hinterließen ihre Spuren. Wo ich vergessen habe, erinnert sich auch heute meine Haut.

Es ist spät, ich kann nicht atmen

125 Seiten, € 6,95, Taschenbuch
Aufbau Verlag, ISBN 978-3746620923

Rezensiert von Alexander Schau