Die Analphabetin

Ich lese. Das ist wie eine Krankheit. Ich lese alles, was mir in die Hände, vor die Augen kommt: Zeitungen, Schulbücher, Plakate, auf der Straße gefundene Zettel, Kochrezepte, Kinderbücher. Alles, was gedruckt ist. Ich bin vier Jahre alt. Der Krieg hat gerade angefangen.
Agota Kristof wuchs zur Zeit des Zweiten Weltkrieges in Ungarn als Tochter eines Dorfschullehrers und seiner Frau recht behütet, aber in ärmlichen Verhältnissen auf. Mit 21 Jahren flüchtete sie über Österreich in den französischsprachigen Teil der Schweiz, wo sie noch heute lebt.

In »Die Analphabetin« zeichnet die Autorin mit einfachen und klaren Worten auf nur wenigen Seiten ein Bild ihrerselbst, das den Leser einfängt und ihm eindringlich die Verlorenheit und Kälte vermittelt, jedoch auch die Kraft und den Willen Agota Kristofs.

»Identität« - dieses eine Wort durchzieht immer wieder das dünne Bändchen, wobei sich der simple, manchmal an eine Art verdunkelte, mild verzerrte Astrid Lindgren erinnernde Schreibduktus stetig um ein verlorenes und (halbwegs) wiedergewonnenes Selbst dreht.

Zunächst der sowjetische Einfluss in Ungarn, später die sprachliche und kulturelle Abschottung in der Schweiz lassen Opfer zurück.
Hier beginnt die Wüste. Soziale Wüste, kulturelle Wüste. Auf die Erregung der Tage der Revolution und der Flucht folgen die Stille, die Leere, die Sehnsucht nach den Tagen, als wir den Eindruck hatten, an etwas Wichtigem, vielleicht Historischem teilzunehmen, das Heimweh, das Vermissen der Familie und der Freunde.
Einige Flüchtlinge, denen Kristof begegnet, halten dieser Entwurzelung nicht stand, wohingegen sie selbst sich ihren Platz erobert, erkämpft und zuletzt vielgelobte Romane und Theaterstücke in französischer Sprache schreibt.

Obgleich »Die Analphabetin« nur einen schmalen Ausschnitt eines ganzen Lebens bildet, ist es von einer Aussagekraft, der kein Wort zuviel, aber doch jedes nötige zueigen ist.

Die Analphabetin

80 Seiten, € 7,95,
Piper, ISBN 978-3492249027
aus dem Französischen von Andrea Spingler

Rezensiert von Juliane Kopietz