Der alte Mann und das Meer

Er war ein alter Mann und fischte allein in einem Boot im Golfstrom, und seit 84 Tagen hatte er keinen Fisch gefangen.
Ernest Hemmingway ist ein Phänomen und aus der Sicht des Kritikers kein unproblematisches. Für die Literaturwissenschaft gilt er neben William Faulkner als bedeutendster amerikanischer Prosadichter des 20. Jahrhunderts. Doch wird man diesem Schriftsteller mit dieser Kategorisierung gerecht? Nein. Denn bei keinem anderen Nobelpreisträger des 20. Jahrhunderts war das Werk so unmittelbares Abbild des Erlebten. Das Problem daran ist, dass Hemmingways Literatur im schlechtesten Fall nur eine mittelmäßige Kopie des unmittelbar Erlebten bleibt. Besonders deutlich wird dies, wenn man Hemmingways Frühwerk »Fiesta« mit seinem späten autobiographischen Lebensausschnitt »Paris – ein Fest für's Leben« vergleicht. Hat man eines davon gelesen, so erübrigt sich das andere, denn beide beschreiben sein unmittelbares (Er-)Leben, ohne dass es ihm aber gelingt, in »Fiesta« eine weitere sprachliche oder erzählerische Ebene zu erschaffen. Hemmingways sprachlicher Minimalismus kann in diesem frühen Werk auch als Unvermögen, zu einer starken eigenen Sprache zu finden, interpretiert werden. Dieser kleine Exkurs ist wichtig, denn er verweist bereits auf Hemmingways bekanntestes Werk, er verweist auf seine Entstehung und erklärt, wie schmal der Grat zwischen literarischem Fehlschlag und einem Meisterwerk ist, das von Generationen gelesen wird.
Du bringst mich um, Fisch, dachte der alte Mann. Aber dazu hast du auch ein Recht. Noch nie habe ich etwas so Großes und so Schönes, etwas so Ruhiges und Edles gesehen wie dich, Bruder. Also komm und töte mich. Es ist mir gleich, wer wen tötet.
»Der alte Mann und das Meer« ist Hemmingeways zu Recht berühmtestes Werk, denn hier gelingt ihm etwas, das ihm so oft missglückte. Er schafft es, vom reinen Beschreiben zum wirklichen Schreiben zu finden. Auch hier verarbeitet Hemmingway eine Geschichte, die er während seines Lebens auf Kuba in vielen Details genau so erlebt hat. Es ist die Geschichte eines einfachen alten Fischers, der sich auf die nicht ungefährliche Jagd nach Marlinen begibt. Von Fischfang zu reden wäre eine Untertreibung, denn Hemmingsways Erzählung handelt von einer atemberaubenden Jagd auf den Marlin, einen majestätisch großen Raubfisch der warmen Meere. Fischer und Fisch, beinahe gleich stark bei ihrem Kampf um Leben und Tod. Hemmingway ist auch in dieser Erzählung sparsam mit seiner Sprache, doch er trifft mit meisterhafter Präzision die Sprache des Fischers und des Meeres. »Der alte Mann und das Meer« ist kein Moby Dick für Arme! Was ein Melville auf vielen hundert Seiten beschreibt, gelingt Hemmingway auf wenigen, es ist eine starke Essenz aus dem Ringen um das Leben. Das Meer in seiner Unendlichkeit, seiner Wucht, seiner schöpferischen Kraft und seiner Fähigkeit, Leben zu geben und zu nehmen, verleiht dieser Erzählung fast etwas Religiöses. Während man Zeile um Zeile liest, ist man so nah am Geschehen, dass man den alten Mann genau vor sich sieht, bei ihm ist, die Gischt spürt, das süße Fleisch einer rohen Makrele schmeckt. Dieses Werk ist überwältigend, menschlich, tragisch und eine Verbeugung vor dem Schauspiel des Lebens.

Der alte Mann und das Meer

151 Seiten, € 20,00, gebunden
Rowohlt, ISBN 978-3498030209
aus dem Englischen von Werner Schmitz

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Rezensiert von Matthias Hey