Das Papierhaus

Im Frühjahr 1988 kaufte Bluma Lennon in einer Buchhandlung von Soho eine alte Ausgabe der Gedichte von Emily Dickinson und wurde an der ersten Straßenecke, als sie gerade beim zweiten Gedicht angelangt war, von einem Auto überfahren.
Man könnte diese kurze Geschichte vielleicht als so etwas wie eine moderne Parabel oder sogar ein kleines Märchen über den Zauber des Lesens bezeichnen: Der Erzähler übernimmt nach dem Tod seiner Kollegin deren Stelle an der Universität und erhält kurz darauf Post, an Bluma adressiert: Joesph Conrads Buch »Die Schattenlinie«, mit einer Widmung darin, und vor allem: Voller Zementreste, verdreckt und eigentlich unbrauchbar. Von diesem seltsamen Buch geht eine Faszination aus, die ihn Nachforschungen anstellen und ihn schließlich nach Uruguay reisen lässt, wo er sich mit einem Bekannten des Absenders unterhält. Dieser erzählt ihm die Geschichte von Carlos Brauer, einem Mann, für den Lesen eine wahre Obsession war und den ein für einen Buchliebhaber tragischer Zwischenfall letztendlich dem Wahnsinn entgegenführte. Dieser Conrad Brauer war eines Tages mit all seinen Büchern an der Küste Uruguays erschienen und hatte sich dort, direkt am Meer, ein Haus gebaut, wie es auf der Welt bis dahin wohl einmalig gewesen war.
Niemand hat es gern, wenn ihm ein Buch abhanden kommt. Lieber verlieren wir einen Ring, eine Uhr oder unseren Schirm als ein Buch, das wir vielleicht nicht mehr lesen werden, das aber mit dem vertrauten Klang seines Titels ein altes, vielleicht verloren gegangenes Gefühl ins uns wachruft.
Das Schicksal war es, das Bluma sterben ließ, diese Frau, von der wir fast gar nichts wissen, nur, dass sie eine leidenschaftliche Leserin war. Diese Information allein ist so wenig und so viel zugleich, denn in der Essenz ist sie alles, was diesem Buch zugrunde liegt: Die Liebe zum Lesen.
Das Schicksal ist es auch, das Conrads Roman zurück nach Oxford führt, weil Bluma es vielleicht so gewollt hatte, weil dieses Buch für sie an und für sich von keinem besonderen Wert war und leicht ersetzbar gewesen wäre. Doch ohne es zu ahnen, hat Bluma ihren einstigen Verehrer Carlos damit gleichzeitig vor dem Lesen gerettet und es ihm endgültig weggerissen.
Vielmehr als der Klappentext selbst kann und möchte man dazu eigentlich gar nicht sagen: »Drei Menschen, die ohne Bücher nicht sein können und deren Leben auf höchst seltsame Weise miteinander verknüpft werden.«
Tatsache ist, dass letztlich der Umfang einer Bibliothek zählt. Wie ein riesiges offenes Gehirn wird diese nämlich unter fadenscheinigen Entschuldigungen und falscher Bescheidenheit zur Schau gestellt. Ich kannte mal einen Professor für klassische Philologie, der die Zubereitung des Kaffees in seiner Küche absichtlich in die Länge zog, um dem Gast Gelegenheit zu geben, seine Bücherregale zu bewundern. Erst wenn das geschehen war, kehrte er befriedigt lächelnd mit dem Tablett ins Wohnzimmer zurück.
Die Idee hinter diesem Büchlein ist hübsch, ein wenig zum Nachdenken, ein wenig zum Träumen - von allem ein bisschen. Trotz der Kürze bringt Domínguez alle wichtigen Informationen unter, sodass die Charaktere trotzdem plastisch und echt wirken (obwohl zwei von ihnen, nämlich eben Bluma und Carlos, überhaupt nicht auftreten!).
Hier und da eingestreute Schrulligkeiten der Figuren lockern das Ganze zusätzlich auf und machen es noch ein wenig ungreifbarer, verklären die Szenerie zusätzlich, ohne sie aber durch Unglaubwürdigkeiten zu verwässern.
Ein schönes Buch für zwischendurch, dem es für einige Stunden wohl gelingt, ein Stück vom Meer und den fernen Geruch alter Bücher zu uns zu holen.

Das Papierhaus

87 Seiten, € 8,00, Taschenbuch
Insel Verlag, ISBN 978-3458363798
aus dem Spanischen von Elisabeth Müller

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Rezensiert von Alexander Schau