Aller Liebe Anfang

Es ist so – Stella und Jason begegnen sich in einem Flugzeug. Einer kleinen Propellermaschine, kein weiter Flug.
Am Abend der Buchpremiere zu »Aller Liebe Anfang«, Judith Hermanns erstem Roman, kommen zwei Frauen unterschiedlichen Alters nebeneinander in der dritten Reihe zu sitzen und gleich darauf ins Gespräch. Während die eine seit 1998, dem Erscheinungsjahr von Hermanns erstem Erzählungsband »Sommerhaus, später« glühende Verehrerin der Autorin ist, »Nichts als Gespenster« so lala und »Alice« unzureichend fand, offenbart die andere ganz andere Gründe für ihr Kommen:
»Ich habe vor Jahren auch einmal mit den Erzählungen angefangen. Zwanzig Seiten habe ich gelesen, aber keinen Zugang finden können, also habe ich das Buch zur Seite gelegt und seitdem nie wieder angerührt. « Pause. Hörbare Irrititation auf Seiten ihres Gegenübers, die sich gleich darauf in Worten niederschlägt: »Ja, und warum sind sie dann hier? « Die Antwort ist simpel: »Ich habe sie neulich im Fernsehen gesehen und fand sie unglaublich sympathisch. Da wollte ich ihr noch eine Chance geben. «
Und als Judith Hermann wenig später die Bühne betritt, sich setzt und ihr Gesicht kurz in die Hand stützt, ist sie das auch auf unwiderstehliche Art und Weise: durch und durch sympathisch.

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich selbst nur wenige Seiten von »Aller Liebe Anfang« gelesen und es, wie auch schon den vorangegangen Band mit Erzählungen, zuerst nicht besonders aufregend gefunden und gleich darauf die Lektüre auf einen späteren Zeitpunkt verschoben.
Der Hermann-typische Detailblick, die Ruhe, mit der sie Geschehnisse aus ungewöhnlichen Blickwinkeln betrachtet, die obligatorische Parataxe, all das ist schon präsent in diesen ersten Absätzen. Aber es wirkt, eher und leider, wie eine Schablone auf Ereignissen, die nicht erzählenswert scheinen. Stella trifft Jason in einem Flugzeug. Sie Pflegerin, er Fliesenleger. Ein harter Schnitt und schon sitzen beide, zusammen mit einer Tochter im Kleinkindalter in einem Vororthaus mit Garten und Panoramafenster und in einem Alltag, der zäh und ereignislos dahinfließt, stetig untermalt von irritierend halbherziger Unzufriedenheit.
Stellas und Jasons Haus. Das ist Stellas und jasons Haus, das ist das haus, das Jason kauft, als Stella mit Ava schwanger ist. Ein Haus für eine Familie. Kein Haus für immer. Wir werden hier auch wieder wegziehen, sagt Jason, wir werden weiterziehen.
Passte Hermanns Schreibstil noch wunderbar auf die Lebensentwürfe ihrer früheren Protagonisten, auf das Stilisierte einer Orientierungslosigkeit und der Fülle an Optionen, die mit den Jahren zwischen 20 und 30 naturgemäß einhergehen, so wirkt er angesichts der klischeehaften Vater-Mutter-Kind-Struktur geradezu anachronistisch.
Hermann könne nicht schreiben, hätte auch nichts zu erzählen, warf man ihr kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vor und fast will man diesem Urteil Glauben schenken. Bis Judith Hermann liest. Und da plötzlich gibt man sich hin, ihren Aufzählungen allenthalben, der Biederkeit von Stella und Jason und der tröpfelnden Geschichte, die sich fadenscheinig vor einem ausbreitet.
Das Stalkerthema wäre es, das unglaubwürdig erscheint und schlecht durchdacht, das vor allem mehr Tempo erfordert hätte. Die Rezensenten legen ihrerseits einen Maßstab an, der vermuten lässt, es gäbe einen Stilkatalog, »Die große Objektivität«, dem man als Autor in jedem Fall zu folgen hat. Angewandt auf »Aller Liebe Anfang« wollen diese im Brustton der Überzeugung vorgebrachten Kriterien jedoch nicht passen. Denn war es nicht schon immer so, dass es in Judith Hermanns Texten auf die Schattierungen ankam und auf das Befinden, das sie vermittelten? Am Rande nur erscheint das eigentlich Wichtige, im Roman also Mister Pfister, der Kontakt zu Stella aufnimmt und sie sanft beunruhigt in ihrer Vororteinöde.
Er sagt, guten Tag. Wir kennen uns nicht. Sie kennen mich nicht. Ich kenne Sie aber vom Sehen, und ich würde mich gerne mal mit Ihnen unterhalten. Haben Sie Zeit. [...]
Stelle hält den Hörer ein Stück von sich weg. Soll das ein Witz sein. […] Der Mann draußen steht leicht gebeugt vor ihrer Klingelanlage und wartet auf eine Antwort. Er wiederholt das nicht noch mal […] sie hat schon richtig verstanden.
Er ist nahezu eine Nebenerscheinung, bäumt sich auf gegen den allumfassenden Alltag, in dem sich die Ereignisse fast traumartig entspinnen. Gemächlich fließend das Tempo, in dem Stella aufsteht, zur Arbeit geht, heimkommt, um ungebetene Briefe und später auch den Namen des Stalkers am Briefkasten vorzufinden. Die extrovertierte Drastik, die das Thema auf den ersten Blick verlangt, erscheint dem Publikum tatsächlich zunehmend vernachlässigbar. Und ist nicht das eine ganz andere Form der Drastik, eine introvertierte sozusagen?
Damals, in der Wohnung in der Stadt, […] hatte Clara ein Gedicht aus der Zeitung ausgeschnitten und an die Wohnungstür gehängt, bis zu ihrem Auszug war das Gedicht dort geblieben. Jeden einlassen, wer auch kommt. […] Hausordnung. Dieses Gedicht hieß Hausordnung. [..] Wärst du noch da, würde die noch gelten. Ich würden jeden einlassen müssen, und ich hätte also auch Mister Pfister eingelassen. Ihn in die Küche gebeten und ihm ein kaltes Bier auf den Tisch gestellt.
Als Judith Hermann endet und man allseits höflich applaudiert, bin ich, für meinen Teil, gewillt ihrem Buch die Absolution zu erteilen, es zu mögen und wertzuschätzen für das, was es ist. Warum sollte nicht durchgehend auf etwas über 200 Seiten funktionieren, was vorher schon in ebenso großem Umfang etappenweise gelang? Vielleicht brauchte es zunächst noch Judith Hermanns unprätentiöse Anwesenheit, um Vorbehalte zu zerstreuen.
Und vielleicht, wenn es denn muss, wird es im nächsten Buch ganz anders.

Aller Liebe Anfang

224 Seiten, € 19,99, gebunden
S. Fischer, ISBN 978-3100331830

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Rezensiert von Juliane Kopietz