Gefallen aus allen Wolken

Wir fahren in unserem großen Ford, einem Ford Fairlane, Sportmodel der sechziger Jahre. In der Hand halte ich einen Fallschirmsoldaten aus Plastik, mit Schnüren, an denen eine schlaffe, camouflagefarbene Plastiktüte befestigt ist. Ich bin fünf Jahre alt, meinen Eltern auf den Vordersitzen sind um die vierzig.
Michael Nyqvist hat also eine Autobiografie geschrieben. Ja, wir sprechen hier über den Schauspieler, der die Hauptrolle in den Filmen der Millenium-Trilogie von Stieg Larsson hatte, ein bisschen Hollywood und viel Theater gemacht hat. Noch ein Schauspieler, der glaubt, sein Leben sei so bedeutend, dass man es verschriftlichen müsse? So geschasst von der Boulevardpresse, dass er einiges richtig zu stellen habe? Wir werden sehen.

Die lose verknüpften Episoden beginnen mit besonders prägenden Erlebnissen in der Schulzeit, zwei Urlauben, den ersten Gehversuchen als Schauspieler. Er hält sich nicht mit Daten auf, erzählt schnell und im jeweiligen Gefühl der Situation. Auf Seite 56 spielt er schon Theater und man weiß schon, dass er adoptiert ist, italienische Wurzeln hat. Etwas ausführlicher, weil komplexer, erfahren wir von der Arbeit an verschiedenen Theaterstücken, dem Tod seines Ziehvaters, dem Gründen der eigenen Familie. Die Geburt seiner Tochter löst den Wunsch aus, doch seine leiblichen Eltern kennen zu lernen, doch der Weg dahin ist zeitintensiv, bürokratisch und erfordert Kraft und Geschick. All diese familiären Dinge passieren neben den Theaterstücken oder andersherum: die künstlerische Arbeit passiert neben den familiären Belangen. Es wird nicht getrennt, ist nie wirklich chronologisch und nie rein sachlich, Motive und Beweggründe werden nicht erklärt, aber durchlebt. Ein Beispiel aus der Schulzeit:
Manchmal verlassen wir den Schulhof, obwohl es verboten ist. Wir legen Steine auf die Gleise. Das ist sehr verboten. […] Der Zug kann entgleisen, sagen wir zueinander. Wir wollen nicht, dass er entgleist, nur sehen, ob es funktioniert.
Nyqvist fängt gottseidank nicht im Urschleim an, hält sich nicht auf, weiß, was er sagen will und tut es dann einfach. Seine bekannten Kinofilme kommen überhaupt nicht zur Sprache. Wer Betrachtung und Knowhow zum Beruf erwartet, sucht vergebens. Stattdessen gerät das Buch zu einer Art Anleitung oder Einleitung, wie es in einem adoptierten (Kinder-)Kopf aussehen kann.

Das Bild, das hier beim Lesen entstanden ist, ist das eines hochgradig unsicheren Mannes, der nie weiß, ob er genügt – dem Publikum, der Familie, der anderen Familie. Bei all dieser Unsicherheit und Sensibilität bemerkenswert ist aber, wie angstfrei er alles angeht.
Vielleicht sollten wir lieber hier bleiben und Deutsche werden. Deutsch ist wohl einfacher als italienisch und die Kinder mögen ja Wurst. Einen Moment lang bin ich gewillt, das ganze Projekt hinzuwerfen. […] Meine Frau ist dem Weinen nahe, aber meine Kinder sehen das Ganze als Abenteuer.
Spannend wie ein Krimi ist das Suchen und Finden der leiblichen Eltern. Ulkig ist die Auswahl der erzählten Situationen, denn in denen läuft fast immer etwas richtig schief. Man fragt sich, ob sein Leben so ist, oder er nur diese Situationen erzählenswert findet. Umwerfend charmant ist er, wenn er sich angetrunken Luft macht:
Ich bin auf einer existentiellen Unternehmung. Ein fordernder, sonnenbescheuerter Schwede. […] Die Carabinieri sehen aus wie alberne Figuren einer Operette und alle übertrieben elegant gekleideten italienischen Männer wie Lustmolche. Alles fühlt sich geheuchelt an. Ich bin Schwede und zwar richtig. Ich rieche nach Kiefern und Fichten und interessiere mich für Skispringen und Eishockey.
Man kann den Eindruck gewinnen, das Buch sei gedacht für Eltern, die ein Kind zur Adoption freigeben oder eines aufnehmen möchten, oder für Fans seiner Person.
Das Buch liest sich gut weg, ist interessant, streckenweise spannend - aber wenn man sich nicht für Nyqvist als Person oder Adoption als Thema interessiert, belanglos. Identitätsfindung als Thema ist hier nicht so universell behandelt, dass es Literatur für die Ewigkeit wäre. Aber das Lesen schadet auch nicht.
Jemand oder etwas hatte meine ganze Welt umgemalt. Alles war noch auf seinem Platz. Aber in einer neuen, unbekannten Farbpalette.

Gefallen aus allen Wolken

203 Seiten, € 16,90, gebunden
Plöttner Verlag, ISBN 978-3955371401
Sonja Vanessa Tonn

→ Leseprobe
Rezensiert von Anna Gierden