Geschwisterkinder

Milla hört die Schritte auf der Treppe, langsam und gleichmäßig, sie stand in der Wohnungstür und schaute Ritschie entgegen.
Zwei Jahre ist es her, dass Hanna Lemke ihr Zweitwerk vorlegte: die Erzählung »Geschwisterkinder«. Und dennoch muss sich dieser Text geradezu den Vorwurf der Aktualität gefallen lassen, entstammt er doch dem Kontext der großen Schreibschulen (die Autorin studierte am Literaturinstitut Leipzig), denen Florian Kessler, selbst Hildesheim-Alumnus, die Produktion der Großen Langeweile vorwirft. Leider befeuert »Geschwisterkinder« kraftvoll diese These. Die 126 Seiten des Büchleins stellen ein Paradebeispiel hübsch verfasster Ereignislosigkeit dar.
Kurz Zusammengefasst: es passiert so ziemlich gar nichts und das leider nicht einmal auf interessante Weise. Doch erst einmal zur Story.

Milla und Ritschie sind Bruder und Schwester, stehen sich allerdings zu Beginn der Geschichte nicht sonderlich nahe und besuchen sich trotz räumlicher Nähe nur selten. Obgleich noch jung, sind beide bereits ebenso desorientiert wie -illusioniert. Sie jobbt nebenher in einem Spielzeugladen, er, der eigentlich Fotograf hatte werden vollen, erfüllt nun stoisch seine Pflicht als Bildredakteur bei einer Zeitung. Und auch in Liebesdingen sieht es beim einen wie beim anderen nicht weniger trostlos aus. Während Milla mit Simon in einer gemeinsamen Wohnung nebeneinander her lebt, lässt sich Ritschie halbherzig und erst auf deren Drängen mit der neuen Praktikantin ein. Zudem bekommen die Geschwister auch noch Besuch von einem alten Familienfreund, Doktor Charles. Dieser liefert ihnen als Protagonist der glücklichen Kinderzeit ein Kontrastprogramm zur aktuellen Situation und führt ihnen den Schiefstand ihrer Lebensentwürfe unangenehm vor Augen. Nicht zuletzt die Einladung zur Hochzeit eines befreundeten Paares befeuert die Unzufriedenheit der beiden und löst, zumindest bei Milla, Angstzustände aus.

Diese Basis, für sich genommen, erscheint wohl noch recht solide. Daraus hätte sich, ob Schreibschulabsolventin oder nicht, durchaus etwas Lesbares bauen lassen, wenn die Autorin nur das Agierenlassen dem Beschreiben vorgezogen hätte. Was sie nicht tut.
Üppig verteilt Hanna Lemke altbekannte so, als wenn-Vergleiche, agiert wird in »Geschwisterkinder« lediglich in der Theorie. Jede noch so banale Handlung(-smöglichkeit) wird gedanklich zerlegt, hin- und hergedreht und dann doch fallengelassen, bevor sie Gestalt annehmen kann. Gerade dieses Als-ob fungiert wie eine Regieanweisung, die strengt befolgt werden will, damit deutlich wird, was der farblose Charakter in Ermangelung glaubhafter Lebensfähigkeit vermitteln möchte. Hin und wieder ändert sich ebenso hilflos wie unmotiviert der Handlungsort.
Ines blieb vor dem Kassentisch stehen - Ihre Haltung kam Ritschie setlsam gezwungen vor, so als müsste Ines sich anstrengen, Milla und ihn nicht aufzuhalten (…) Er konnte sich gut vorstellen, wie Ines ihnen hinterherschaute, als würde sie am liebsten mit ihnen gehen.
Der Leser wähnt sich vor einer Bühne, auf der die Schauspieler schlaff und ausdruckslos herumstehen, während ein Erzähler dem Publikum mitteilt, was theoretisch geschieht. »Am liebsten würde sie«, &eaquo;am liebsten hätte er«, es überkommt einen die Lust selbst einzugreifen, den blutleeren Charakteren zuzurufen »Ja, dann mach doch mal!«. Nach nur wenigen Seiten gerät man ins Gähnen und kann nicht umhin die Geschichte genauso träge und anstrengend zu finden, wie den Sommer, in dem sie sich abspielt. Vielleicht hätte es auf fünf bis zehn Seiten verdichtet funktioniert, als Bestandteil eines neuen Erzählungsbandes im Stile von »Gesichertes«, Lemkes sehr gelungenem Erstling. Judith Hermann, mit der Hanna Lemke so gern verglichen wird, hat immerhin auch noch keinen Roman geschrieben, weil sie schreibt, was sie am Besten kann.
Vielleicht aber benötigt Hanna Lemke auch einfach noch einen weiteren Anlauf, etwas mehr Zeit und Erfahrung, um zu einer Form des Erzählens zu gelangen, die mit einer größere Seitenzahl in Einklang zu bringen ist. Dies sei ihr gern zugestanden und bis es soweit ist, lese ich gern noch einmal ihr Debüt.

Geschwisterkinder

120 Seiten, € 14,95, gebunden
Kusntmann, ISBN 978-3888977497

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Rezensiert von Juliane Kopietz